Berlin: Vor kurzem hat der Deutsche Bundestag das Ausbildungsgeld erhöht und eine Anpassung des Arbeitsentgelts in Werkstätten für behinderte Menschen diskutiert und beschlossen. Die behindertenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Corinna Rüffer, hat sich während der Debatte besonders ins Zeug gelegt. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit ihr folgendes Interview darüber, was die Änderungen genau bedeuten und was eigentlich getan werden müsste.
kobinet-nachrichten: Anfang Juni hat sich der Deutsche Bundestag mit der Erhöhung der Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgeldes befasst. Was wurde genau beschlossen und was bringt das den Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen?
Corinna Rüffer: Die Bedarfssätze und Freibeträge für die Berufsausbildungsbeihilfe und das Ausbildungsgeld werden erhöht. Davon sind berufliche Ausbildungen betroffen, aber auch Berufsvorbereitungsmaßnahmen und die Berufsbildungsbereiche in Werkstätten. Das Ausbildungsgeld wird von 80 auf 117 Euro erhöht (zum 1. August 2019) und zum 1. August 2020 auf 119 Euro. Auch wenn die Steigerung um fast die Hälfte beeindruckend klingt, tut sich also wenig im Geldbeutel der Beschäftigten in Werkstätten.
kobinet-nachrichten: Einhergehend mit dieser Neuregelung wurde auch der Grundbetrag für Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen erhöht. Wie fällt diese Erhöhung in den nächsten Jahren genau aus und wie ist diese Ihrer Meinung nach einzuordnen?
Corinna Rüffer: Die Erhöhung des Grundbetrages wäre eigentlich automatisch fällig gewesen, weil das SGB IX den Grundbetrag an das Ausbildungsgeld koppelt. Schließlich kann man den Menschen nur schwer erklären, warum sie während der Ausbildung mehr verdienen als danach. Auf massiven Druck der Werkstätten wird sie jetzt aber über 4 Jahre gestaffelt. Über diesen ganzen Zeitraum wird damit der Grundbetrag um 39 Euro erhöht – auch das werden die betroffenen Menschen kaum im Geldbeutel spüren. Und natürlich bleibt die Frage, welche Wertschätzung wir der Arbeit dieser Menschen zumessen, die für ca. einen Euro pro Stunde arbeiten.
kobinet-nachrichten: Wenn Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen 2017 durchschnittlich nur 214 Euro bekamen, müsste da nicht ein großer Aufschrei angesichts dieser geringen Bezahlung weit unter dem Mindestlohn stattfinden? Wie haben Sie die Debatte dazu im Deutschen Bundestag empfunden?
Corinna Rüffer: Wenn wir uns Arbeitnehmer*innen vorstellen, haben viele dabei ein bestimmtes Bild vor Augen (zum Beispiel den männlichen Facharbeiter am Band). Beschäftigte in Werkstätten werden dabei oft vergessen, also natürlich auch in Debatten über gerechte Entlohnung. Häufig stehen uns noch Barrieren in den Köpfen im Weg. Als "Meister im Aussortieren“ schafft Deutschland bisher vollkommen voneinander abgeschottete Sonderwelten, in denen sich Menschen mit und ohne Behinderung dann weder in Kita und Schule noch im Arbeits- oder Privatleben begegnen. Dadurch entstehen Berührungsängste und Vorbehalte, oft wird die Leistungsfähigkeit behinderter Menschen unterschätzt. Solche Barrieren in den Köpfen gibt es leider auch bei Abgeordneten des Deutschen Bundestages.
kobinet-nachrichten: Ein Gegenargument bei der Erhöhung der Sätze war die begrenzte Leistungsfähigkeit der Werkstätten für behinderte Menschen, so dass diese damit überfordert wären und in die Krise geraten könnten. Wenn diese nur so wenig für ihre Beschäftigten erwirtschaften, ist das dann überhaupt noch das richtige System?
Corinna Rüffer: Einerseits werben die Werkstätten mit der hohen Qualität ihrer Arbeit und Produkte, andererseits erwecken sie den Eindruck, überwiegend Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf zu beschäftigen, die nicht so leistungsfähig seien. Das ist für mich ein krasser Widerspruch. Jetzt verlangen CDU, CSU und SPD in ihrem erbärmlich dünnen Entschließungs-Antrag, innerhalb von vier Jahren ein "transparentes, nachhaltiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem zu entwickeln“.
Wir brauchen aber schon jetzt vollständige Transparenz über das Vergütungssystem in Werkstätten – auf allen Hierarchiestufen. Nur so lässt sich die tatsächliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Werkstätten überprüfen – und das ist die Voraussetzung dafür, ein gerechtes Lohnsystem zu entwickeln. Es ist schließlich schwer vorstellbar, dass eine Lohnerhöhung von rund 25 Cent pro Stunde die Werkstätten ruinieren soll.
kobinet-nachrichten: Wie kann die künftige Debatte über Werkstätten für behinderte Menschen Ihrer Meinung nach im Sinne der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geprägt werden?
Corinna Rüffer: Werkstätten sind nur als Übergänge gedacht und sollen den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt ebnen. Dafür müssen sie ihrem Auftrag gerecht werden, zu qualifizieren und Potential zu erhalten bzw. zu verbessern. Allerdings können wir diese Diskussion nicht führen, ohne uns den Arbeitsmarkt kritisch anzuschauen, so wie er sich gerade darstellt. Beschäftigte sollen ständige Verfügbarkeit anbieten, Aufgaben werden immer komplexer und umfangreicher, Tempo und Taktungen steigen. In diesem Umfeld gehen schon jetzt auch nichtbehinderte Menschen über ihre Grenzen. Einige von ihnen landen dann mit Burnout in den Werkstätten. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, zu entschleunigen, Aufgaben auf ausreichend viele Schultern zu verteilen und bei der Gestaltung von Arbeitsabläufen und Arbeitsplätzen auf Lebensqualität zu achten. Ein solcher Arbeitsmarkt bietet auch genügend Raum für diejenigen, die langsamer verstehen bzw. handeln und kommt letztendlich uns allen zugute.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.