Winsen a. d. Aller (kobinet) Der Deutsche Bundestag hat in einem Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert, einen genaueren Blick auf die Entlohnung der behinderten Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen zu werfen. Mittlerweile wurde das Forschungsvorhaben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales vergeben und gestartet. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit Ulrich Scheibner von der virtuellen Denkwerkstatt - eine Allianz zukunftsorientierter Werkstattfachleute - über das System der Werkstätten und die Entlohnungspraxis. Ulrich Scheibner hat früher 25 Jahre lang als Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) gearbeitet und weiß daher gut, wovon er spricht.

kobinet-nachrichten: In Sachen Entlohnung der Mitarbeiter*innen von Werkstätten für behinderte Menschen hat es schon viele Diskussionen gegeben. Was erhoffen Sie sich von der nun anstehenden wissenschaftlichen Untersuchung zur Entlohnung in Werkstätten und wie kam diese zustande?

Ulrich Scheibner: Angesichts des bundesweiten Durchschnittsbetrages von 162,29 € im Monat kann man nicht ernsthaft von "Entlohnung“ sprechen. Mehr haben die "Werkstatt“-Träger 2018 aus ihrem wirtschaftlichen Ergebnis aber nicht an die Beschäftigten ausgezahlt. Das Missverhältnis zu den Tariflöhnen der "Werkstatt“-Angestellten und "Werkstatt“-Leitungen ist offensichtlich.

Tatsächlich wird die Bezahlung der "Werkstatt“-Beschäftigten seit Jahrzehnten immer wieder mal thematisiert. Die Forderung fortschrittlicher "Werkstatt“-Fachleute nach einem existenzsichernden Arbeitseinkommen für "Werkstatt“-Beschäftigte stammt aus dem Jahr 1984. Nach nunmehr 35 Jahren hat sich der Bundestag zumindest zu einer "Beleuchtung“ der Lohnsituation in den "Werkstätten“ durchgerungen. Nach weiteren vier Jahren soll ein Ergebnis vorliegen.

Die wissenschaftliche Untersuchung der "Werkstatt“-Bezahlung hatte das Bundesarbeitsministerium im Februar 2020 mit einer Leistungsbeschreibung in Gang gesetzt. Die entsprach der Entschließung der Regierungsfraktionen vom 04.06.2019. CDU/CSU und SPD hielten es endlich für "erforderlich, das bestehende Entgeltsystem in den Werkstätten zu beleuchten“ (BT-Drs. 19/10715).

Vom Forschungsergebnis muss man sich erhoffen, dass es Licht in einige dunkle Sachverhalte bringt:

Viele "Werkstatt“-Beschäftigte sind nach Rechtslage Arbeitnehmer*innen. Sie hätten längst Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Das Problem ist: Die maßgeblichen Beteiligten lesen vom entsprechenden § 221 Abs. 1 SGB IX nur die zweite Hälfte. Sie ignorieren den ersten Teil dieses Gesetzestextes – die Passagen über die Arbeitnehmereigenschaft. Das erkennen hoffentlich auch die Wissenschaftler der Forschungsinstitute und offenbaren diese Diskriminierung.

Eine besonders skandalöse Ungerechtigkeit muss ans Licht: Alle in den "Werkstätten“ Angestellten erhalten sichere, auskömmliche Tariflöhne. Das sind Monatslöhne, also Zeitlöhne und keine Leistungslöhne. Ihre Einkommen hängen nicht von irgendeiner Leistung, Fähigkeit oder Qualifikation ab. Und sie alle werden aus staatlichen Haushalten finanziert. Nur die "Werkstatt“-Beschäftigten müssen ihr Arbeitseinkommen selbst erwirtschaften. Gerade das macht der Gesetzgeber auch noch von der Leistung und Leistungsfähigkeit der beeinträchtigten Menschen abhängig (s. § 221 Abs. 2 SGB IX). Da wird der Niedrigstlohn zur Bestrafung für die Auswirkungen einer Beeinträchtigung.

Beleuchtet werden muss eine weitere Diskriminierung: Aus dem wirtschaftlichen Ergebnis, das die arbeitenden Menschen mit Beeinträchtigungen schaffen, werden u. a. die außertariflichen Zulagen der Angestellten und Leitungen, die Sonderzahlungen an sie und auch ihre Dienstwagen finanziert. Das schmälert den Etat, der eigentlich für die Arbeitsentgelte der Beschäftigten zur Verfügung stehen sollte.

Ins Licht der Öffentlichkeit gehört zudem eine übliche und doch unglaubliche Praxis: "Werkstatt“-Leitungen, die für ein schlechtes Wirtschaftsergebnis verantwortlich sind, kürzen zum Ausgleich der nicht gedeckten "Werkstatt“-Kosten die Arbeitsentgelte der beeinträchtigten Beschäftigten. Jedes finanzielle Risiko, jedes wirtschaftliche Missmanagement bezahlen die "Werkstatt“-Beschäftigten unfreiwillig mit ihrem Lohn – als fehlende Erhöhung oder gar als Kürzung.

Die schwarze Liste an Benachteiligungen und Diskriminierungen im "Werkstätten“-System ist damit lange nicht vollständig. Das haben Fachleute in unserer kritischen Gemeinschaft, die sich "Virtuelle Denkwerkstatt“ nennt, schon vor Jahren und immer wieder offengelegt.

Trotz der Jahrzehnte ohne echte Fortschritte beim Arbeitseinkommen der "Werkstatt“-Beschäftigten hoffen wir nun darauf, dass das Forschungsprojekt zumindest die zahlreichen Probleme beim Arbeitsentgelt, ihre Ursachen und die Verantwortlichen benennt. Im zweiten Schritt erwarten wir Lösungsvorschläge und im dritten Schritt inklusionsgerechte politische Entscheidungen.

kobinet-nachrichten: Welche Baustellen sehen Sie, die für eine gerechte Entlohnung von behinderten Menschen, die in Werkstätten arbeiten, fertiggestellt werden müssten?

Ulrich Scheibner: Es sind zu viele Baustellen, als das sie hier aufgezählt werden könnten. Einige davon sind längst Bauruinen:

Es muss endlich Schluss sein mit pauschalen und nivellierenden Aussagen und Beurteilungen der sehr differenzierten "Werkstatt“-Belegschaften. Wir haben unter den beeinträchtigten Beschäftigten hart und ergebnisorientiert arbeitende "Malocher*innen“. Es gibt Beschäftigte an CNC-Maschinen ebenso wie Mitarbeiter*innen, für die ruhige und nachhaltig lernorientierte Arbeiten sinnvoll sind. Sie alle gleichermaßen in den Topf "voll erwerbsgemindert“ zu werfen, ist pädagogisch, politisch und ethisch unverantwortlich. Übrigens ist das auch rechtlich falsch, weil eine Erwerbsminderung kein Kriterium für die Aufnahme und die Mitarbeit in einer "Werkstatt“ ist.

Da "Werkstätten“ keine beruflichen Rehabilitationseinrichtungen sind und deshalb auch im Gesetz nicht als solche bezeichnet werden (s. § 51 SGB IX), müssen endlich alle Beschäftigten ihren Arbeitnehmerstatus zugestanden bekommen. Das sichert ihnen das Recht auf den gesetzlichen Mindestlohn. Denn auf den hat "jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer […] Anspruch“ nach § 1 Abs. 1 MiLoG. Dafür muss man das Forschungsergebnis nicht abwarten. Das ist sofort und unverzüglich machbar.

Alle "Werkstatt“-Träger müssen gesetzlich verpflichtet werden, ihre wirtschaftlichen Jahresergebnisse allgemein zugänglich und verständlich zu veröffentlichen. Das darf nicht länger nur für die eine Hälfte der "Werkstätten“ gelten, für die GmbH-"Werkstätten“. Alle müssen verpflichtet werden, sämtliche Fakten zu veröffentlichen, die sich auf die Höhe der Arbeitsentgelte ihrer Beschäftigten auswirken: das wirtschaftliche Arbeitsergebnis, seine genaue Zusammensetzung, seine exakte Verwendung (vgl. § 12 Abs. 1 WVO) und wie sich die Kostensätze, die der Staat an sie zahlt, auf das Wirtschaftsergebnis auswirken (vgl. § 58 Abs. 4 SGB IX).

Es muss den "Werkstatt“-Trägern durch Rechtsnormen untersagt werden, die nicht durch Kostensätze gedeckten Lohn- und Gehaltsanteile der hauptamtlichen "Werkstatt“-Angestellten aus dem Wirtschaftsergebnis zu finanzieren. Für die Personalkosten-Erstattung sind die staatlichen Kostensätze da. Wenn der Staat ihm zu hoch erscheinende Personalkosten nicht übernimmt, darf nicht länger der Weg des geringsten Widerstandes gegangen werden, indem man die beeinträchtigten Menschen zur Kasse bittet.

Es ist unverantwortlich, dass beeinträchtigte Menschen in den "Werkstätten“ als einzige Personengruppe eine Art Leistungslohn erhalten und keinen Zeitlohn. Es ist ebenso unverantwortlich, dass dieser Leistungslohn auch noch vom Jahresergebnis und damit von der Qualität des Wirtschaftsmanagements abhängig gemacht wird. Zu diesen Demütigungen gehört, dass "Werkstatt“-Träger mit ihren Verbänden und die Politik so tun, als hinge die Höhe der Arbeitseinkommen beeinträchtigter Beschäftigter von ihrer individuellen Leistung ab.

Die Gleichung ist falsch: niedrige Leistung = niedriger Lohn. Das Wirtschaftsergebnis der "Werkstatt“ ist an ganz andere Faktoren geknüpft: an die Qualifikation der Leitung, an die Fachlichkeit der Auftragsbeschaffung, die Kompetenz der Arbeitsvorbereitung, die ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, die Qualifizierungsmaßnahmen für die arbeitenden Menschen usf. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich die Lohnhöhe auch nach dem Markt, nach der Wirtschaftslage, der Wirtschaftsregion usw. richtet. Ob und wie sich das aber auf die Einkommen auswirkt, hängt von der Qualität des "Werkstatt“-Managements ab. Womöglich stimmt hier die Gleichung: niedrige Leistung = niedriger Lohn?

Die Gesetzesregelung, dass die "Werkstätten“ an ihre beeinträchtigten Beschäftigten einen Leistungslohn zahlen sollen (§ 221 Abs. 2 SGB IX), muss endlich ersetzt werden. Dafür gibt es etliche, z. T. sehr unterschiedliche Vorschläge. Sie gehen aber alle in die gleiche Richtung: Das Arbeitsentgelt muss ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dafür müssen "Werkstatt“-Träger, Wirtschaft und Politik gemeinsam die Verantwortung tragen. Grundlage kann z. B. der gesetzliche Mindestlohn sein. Die "Werkstatt“-Träger sind für einen bestimmten Lohnanteil zuständig, z. B. für 20 %, die Politik für den anderen. Reicht das Wirtschaftsergebnis der "Werkstätten“ nicht aus, muss das "Werkstatt“-Management dafür die Gründe darlegen − den amtlichen Kostenträgern, dem Betriebsrat und dem Werkstattrat.

kobinet-nachrichten: Was wäre Ihrer Ansicht nach wichtig, um den Inklusionsauftrag für eine Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt der Werkstätten für behinderte Menschen umzusetzen?

Ulrich Scheibner: Für das Eingesperrtsein tausender Menschen in den "Werkstätten“ gibt es drei Hauptverantwortliche: die Werkstattträger, die Wirtschaft und die Politik, zu der auch die amtlichen Kostenträger gehören. Das lässt sich so erklären:

Immer noch machen "Werkstatt“-Angestellte den beeinträchtigten Beschäftigten Angst vor der Erwerbswirtschaft, vor einem Versagen, vor möglichen Vorurteilen gegenüber "Behinderten“, vor Nachteilen für ihre Rentenhöhe, vor dem Alleingelassensein und nicht zuletzt vor der Gefahr der Arbeitslosigkeit.

Das geringe pädagogische und psychologische Qualifikationsniveau in den "Werkstätten“ reicht nicht aus, damit sich sog. resiliente Persönlichkeiten entwickeln können. Das sind selbstbewusste, selbständige und widerstandsfähige Menschen, die kritisch und selbstkritisch auftreten. In den Leistungskatalogen der "Werkstätten“ gibt es kaum konkrete Maßnahmen, damit sich solche Persönlichkeiten herausbilden können.

"Werkstatt“-Träger und ihre Angestellten haben wenig Interesse daran, ihre befähigte Mitarbeiterschaft herauszugeben und in die Erwerbswirtschaft zu entlassen. "Werkstatt“-Leitungen handeln im Interesse ihrer Produktion, haben den wirtschaftlichen Output vor Augen und nicht den pädagogischen. Sie wollen ihre leistungsstarken Arbeitskräfte behalten. "Werkstätten“ sind eben keine Rehabilitationseinrichtungen, sondern Produktionsstätten.

Inzwischen wächst unter den "Werkstatt“-Träger auch die Befürchtung, dass ihr Betriebstypus überflüssig werden könnte. Immerhin gibt es Konkurrenten: die sog. Inklusionsbetriebe und die "anderen Leistungsanbieter“, wie das Gesetz die Billigausgaben der "Werkstätten“ nennt. Auch die Budgets für Arbeit und für Ausbildung könnten eines Tages die "Werkstätten“ leerer werden lassen. Und europaweit ist unser "Werkstätten“-Typ schon lange kein Modell mehr.

Eine ebenso große Verantwortung liegt bei den Wirtschaftsbetrieben. Sie ignorieren seit Jahrzehnten ihre gesetzliche Pflicht, auch die sog. besonderen Gruppen schwerbehinderter Menschen zu beschäftigten (s. § 155 SGB IX). Das Gesetz zählt einige dieser Personengruppen auf. Darunter sind auch solche mit kognitiven Beeinträchtigungen. Dieser Bevölkerungsteil wird immer noch in die "Werkstätten“ geschickt und nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt. Um das zu ändern, gibt es seit langem und sogar von der SPD-Bundestagsfraktion Empfehlungen an die Politik: von der Erhöhung der Pflichtquote und der Ausgleichsabgabe bis hin zur Quotenregelung bei der Beschäftigungspflicht – auch der "besonderen Gruppen“.

Die Hauptverantwortung liegt allerdings bei der Politik. Sie müsste sich nämlich entschieden mit den Wirtschaftsvertretungen anlegen, um sie zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten zu veranlassen. Die Rechtsnormen dazu gibt es längst, z. B.:

− unser Grundgesetz,

− das "Gesetz zum UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“,

− das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und

− das SGB IX.

Aber bislang gehen Bundestag und Bundesregierung den Weg des geringsten Widerstandes und schicken beeinträchtigte Menschen lieber in die "Werkstätten“, als dass sie deren Beschäftigung im allgemeinen Wirtschaftsleben durchsetzen.

Einige politische Maßnahmen, um diese unwürdige und anti-inklusive Situation zu verändern, wären folgende:

"Werkstätten“ müssen – rechtlich und tatsächlich − zu echten Rehabilitationseinrichtungen werden. Ihre Leistungen müssen also prinzipiell zeitlich begrenzt werden. Schon vor zehn Jahren hatte ein LAG WfbM-Vorsitzender und "Werkstatt“-Geschäftsführer gefordert, die vertragliche Dauer der Beschäftigung auf höchstens fünf Jahre zu begrenzen. Eine Verlängerung sollte ausnahmsweise und abhängig von den Auswirkungen der Beeinträchtigung möglich sein.

Die Bundesagentur für Arbeit und die Integrationsämter müssen das Recht bekommen, arbeitssuchende Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen den Betrieben zuweisen zu können. Ein solches Recht hatten wir bis 1974. Es wurde nicht angewandt und deshalb aufgehoben. Heute muss die Inklusionspflicht der Wirtschaft nachdrücklicher als bisher gefordert werden. Dafür sind solche gesetzlichen Auflagen zumindest zeitweilig unverzichtbar.

Wirklich gemeinnützige Betriebe wie es sie unter den sog. Inklusionsbetrieben gibt, müssen stärker staatlich gefördert werden. Dazu gehört auch eine personbezoge angemessene Pflicht zur Berufsausbildung. Demgegenüber muss sich der Staat von Billig-"Werkstätten“ − wie z. B. den sog. anderen Leistungsanbietern – trennen. Wer das Gesetz zum UNO-Übereinkommen genau liest und befolgt, erhält eine qualifizierte politische und inklusionsverpflichtete Aufgabenliste. Auch ein tieferer Blick in das Bundestagshandbuch von 2008 würde zu einer inklusionsorientierten Politik verhelfen.

Alle Rechtsgrundlagen, die den Wechsel aus der "Werkstatt“ ins übliche Erwerbsleben behindern, müssen überdacht und teilhabeorientiert novelliert werden. Dazu gehört auch das Rentenrecht.

kobinet-nachrichten: Sie haben ja langjährige Erfahrungen mit den Werkstätten für behinderte Menschen. Woher rühren diese, und wie reformfähig schätzen Sie diese Systeme ein?

Ulrich Scheibner: Die meisten "Werkstatt“-Fachleute in unserem Arbeitskreis, der Virtuellen Denkwerkstatt, waren oder sind seit Jahrzehnten in Führungspositionen bei "Werkstatt“-Trägern oder ihren Verbänden tätig. Bei uns arbeiten sporadisch z. B. ein früherer BAG WfbM-Vorsitzender und zwei ehemalige stellvertretende BAG WfbM-Vorsitzende mit. Besonders wichtig ist für uns die Beteiligung der Menschen mit Beeinträchtigungen, ihre Angehörigen und Werkstatträte.

Mein ehrenamtliches Engagement baut auf meiner früheren fast 25-jährigen Berufstätigkeit als BAG WfbM-Geschäftsführer auf. Viele von uns sind nicht besonders optimistisch, was die Veränderungsfähigkeit dieses "Werkstätten“-Systems angeht. Denn es stehen enorm starke Kräfte dagegen: Die Erwerbswirtschaft hat kein Eigeninteresse, die "Werkstatt“-Verbände müssten sozialpolitischen Einfluss abtreten, die "Werkstatt“-Träger verlören nicht nur an sozialer Bedeutung, sondern auch ihre praktische Notwendigkeit.

Und mittendrin steckt die Politik in dem Dilemma, Inklusion durchsetzen zu müssen, wenn sie die Menschenrechte ernst nimmt. Selbst für die kleinsten Reformen wurden Jahre, Jahrzehnte gebraucht. Und viele davon sind eher hübsch verpackte Vertröstungen. Das sog. Bundesteilhabegesetz z. B. hat den "Werkstatt“-Beschäftigten bisher 52 Euro mehr im Geldbeutel gebracht, aber keinen echten gesellschaftspolitischen Fortschritt.

Und doch gibt es ein reformpolitisches Vorbild ersten Ranges: Der Niedergang der DDR und der anhaltende Aufbau eines neuen Deutschlands beweisen, dass selbst völlig verkrustete und historisch überholte Herrschaftsstrukturen aufgebrochen und umgeformt werden können.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie drei Wünsche an die Politik im Zusammenhang mit Werkstätten für behinderte Menschen frei hätten, welche wären dies?

Ulrich Scheibner: Am liebsten würde ich bei jedem Wunsch drei weitere Wünsche begehren. Denn der Reformbedarf ist geradezu gewaltig.

Inhaltlich wäre der erste Wunsch: Gewährleistet das gleiche Recht auf Arbeit: Jeder Mensch, der erwerbstätig werden will, soll auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig werden können.

Der zweite Wunsch: Gestaltet die Erwerbswirtschaft inklusiv und offen und verwirklicht das Recht, dass jeder erwerbsinteressierte Mensch sein Leben durch Erwerbsarbeit sichern kann. Also: Lasst durch bedingungslose Inklusion die heutigen "Werkstätten“ überflüssig werden.

Der dritte Wunsch: Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen, die nicht erwerbstätig sein können oder wollen, müssen das Recht auf ein Leben mitten in unserer Gesellschaft haben. Sie dürfen nicht an den Rand geschoben werden, weil sie von den Angehörigen als belastend oder von der Erwerbswirtschaft als hinderlich angesehen werden. Ihre gleichberechtigte Teilhabe, ihr Leben unter uns und mit uns ist die politische Verpflichtung. Dafür fehlt ein politisches Konzept.

Papst Franziskus hat in seiner jüngsten Enzyklika "Fratelli tutti“ für das Zusammenleben aller Menschen eine schlichte, beachtenswerte Formulierung verwandt und sie eindrucksvoll beschrieben: soziale Freundschaft.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.